Sorry, ich habe das Brot nicht selbst gebacken!
3. Mai 2020

Frauen aufgepasst: persönliche Weiterentwicklung ohne Optimierungswahn. Wie geht das?

Nachlese zu dem ersten Purpose-Talk für Frauen vom 29. April 2020.

83 % der Coaching-Angebote werden von Frauen wahrgenommen. Dieser Befund (aus der Facebook-internen Statistik über Zielgruppenwerbung 2019) deckt sich sehr gut mit meiner Erfahrung und subjektiven Wahrnehmung aus meiner Coaching-Praxis.

Warum ist das so? Darauf habe ich eine Antwort mit mehreren Deutungsmöglichkeiten: Frauen haben eine höhere Bereitschaft sich mit sich selbst und Themen die sie betreffen oder interessieren, auseinander zu setzen. Das tun sie einerseits aus dem Bedürfnis heraus, für sich selbst oder Menschen in ihrem Umfeld etwas gutes oder angenehmes zu tun. Und zum anderen aus einem tiefen, subjektiv empfundenen Defizitgedankens und dem Gefühl des „Nicht-genügens“

Die Grenzen der beiden Motivlagen verschwimmen. Der Yoga-Kurs, Reiki lernen, Vollwert-Kochen nach Mondphasen, Brotbacken – das alles sind wunderbare Themen und es ist sehr nachvollziehbar, dass man sich dafür interessiert. Auch das Interesse an Wissensthemen und der große Ehrgeiz und auch das Talent junger Frauen, in beruflicher Hinsicht erfolgreiche Karriereverläufe und Positionen in Organisationen anzustreben, ist sehr gut nachzuvollziehen. Die Gesamtheit von erfolgreichen Lebensverläufen – privates Lebensglück mit Partnerschaft, Kindern, Wohlstand und den entsprechenden Lifestyle – legt uns die Latte meistens recht hoch.

Auf der anderen Seite leben die Frauen zu einem großen Teil immer noch mit dem Mindset – bewusst und unbewusst – dass sie sich ständig immer weiter optimieren müssen. Nicht gut und kompetent genug, nicht perfekt genug, zu wenig durchsetzungsfähig, zu wenig strategisch, zu wenig schlank und attraktiv, zu wenig effizient bei Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, usw….. es ist nie gut genug!

In meiner Beratungspraxis bestätigt sich dieser Befund oft. Frauen kommen

  • mit sehr defizitorientierten Denkmustern,
  • suchen die Probleme hauptsächlich bei sich selbst und
  • sind in der eigenen Wahrnehmung für die Lösung aller Probleme und für das Wohlbefinden aller anderen zuständig.

Im Vergleich dazu sehen Männer das Problem viel weniger in ihrer eigenen Persönlichkeit begründet. Sie halten sich weniger auf mit selbstkritischen Grübeleien, beziehen Reaktionen von anderen Menschen viel weniger auf sich selbst. Sie suchen die Lösungen eher im Außen und auf der Ebene der eigenen Verhaltensoptimierung. Was lasse ich weg? Wohin delegiere ich etwas? Mit der männlich-entspannten Sichtweise: ich bin gut so wie ich bin, stellen sich viel Fragen erst mal gar nicht.

„Ich verstehe es überhaupt nicht, wie es manchen Männern gelingt, mit der totalen Gelassenheit und Selbstverständlichkeit ihren Bierbauch vor sich her zu tragen! Es würde mich wirklich interessieren, wie das geht!“

Das ist eine der Fragen, mit der sich eine der Teilnehmerinnen am 1. Purpose-Talk für Frauen in die Diskussion einbringt. Das virtuelle Format Zoom-Meeting macht es möglich, was in Präsenz-Treffen oft nicht gelingt: vielbeschäftigte Frauen aus unterschiedlichen Berufen und Lebenswelten, verteilt über das ganze Land und darüber hinaus bis in die Schweiz, widmen sich 1,5 Stunden diesem Thema.

Persönliche Weiterentwicklung ohne Optimierungswahn spricht offenbar ein wichtiges Problemfeld an. Für manche Frauen ist hier ein hoher Leidensdruck zu spüren. Sich überfordert fühlen, sich selbst zu überfordern und ein ständiger Kampf gegen das eigene Versagen ist ein Zustand, den viele gut kennen.

Als Coach – und nicht zuletzt meine eigene Lebensrealität als Frau und Familienmensch – zeigen mir immer wieder eine große Diskrepanz und gleichzeitig große Sehnsucht: einerseits wollen wir bei uns selbst ankommen, so angenommen werden, wie wir sind, uns selbst so annehmen, wie wir sind. Und gleichzeitig ist das Bedürfnis da, in dieser Leistungsgesellschaft genauso zu entsprechen, erfolgreich sein, am Job-Markt, in Beziehungen, als Mensch und soziales Wesen in der eigenen Peer-Group zu entsprechen, dazu gehören. Also das zentrale Problem einer gesunden Balance von ganz du selbst sein und gleichzeitig mit den anderen sein können.

Es gibt keine bessere Version von mir selbst wie die, die gerade jetzt da ist.
Die Health- und Empowerment-Coach Heidi Hauer berichtet aus ihrer Praxis. Es geht vor allem darum, verzerrte Bilder gerade zu rücken und mitzuhelfen, den Weg zu einem persönlichen Ziel toll zu gestalten. Die Reise ist so schön wie das Ziel. Die Frauen lernen, sich zu erlauben, einfach nur zu sein und die Perspektive zu wechseln.

Eine Teilnehmerin berichtet von ihren Erfahrungen im ländlichen Raum: obwohl sie „nur“ 15 Stunden gearbeitet hatte, gab es Probleme mit den Kinderbetreuungszeiten im Kindergarten und fehlende Akzeptanz und Kritik aus ihrem Umfeld. Ihrer Erfahrung nach mangelt es nach wie vor an weiblicher Solidarität und viele Frauen leben in dem Glauben, sie müssten mindestens doppelt so gut sein wie die Männer.

Die relativ älteste Teilnehmerin in dieser gemischten Runde – eine pensionierte Lehrerin und leidenschaftliche Feministin – stellt die Frage nach der unterschiedlichen Wahrnehmung dieser Fragestellung unter den verschiedenen Frauengenerationen. Welchen Impact hat es auf die eigene Einstellung und das Verhalten, wie emanzipiert und karrierebewusst die eigene Mutter war?

Ich erinnere mich an eine interessante Wahrnehmung aus dem Kontext eines Frauen-Nachwuchsführungskräfte-Mentoring-Programmes. Die jungen Mentees erwarteten von den Mentorinnen  über Führungs- und Managementtechniken zu lernen und wünschen sich Rezepte, wie sie alle Anforderungen schaffen und sich gegen den männlichen Stil behaupten können. Die erfahrenen Mentorinnen bieten ihren Mentees dann aber recht gelassene Ratschläge an: „bleib gut bei dir, lass dich nicht aus deinem Konzept bringen, es wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht!“

Die Krise als Brennglas

Kurz kommt noch ein die Frage auf, wie sich die aktuelle Krise auf den Optimierungsanspruch von uns Frauen auswirkt. Der Tenor ist in unserer Gruppe eindeutig: die Krise ist wie ein Brennglas und macht das Problem noch besser sichtbar. „Sorry, obwohl ich jetzt schon seit Wochen home-office mache und die Kinder zu Hause unterrichte, jeden Mittag und Abend warmes Essen koche,  habe ich noch keine Marmelade eingekocht, das Brot nicht selbst gebacken und noch nicht alle Fenster geputzt.“

Das online-Gespräch verläuft sehr offen und freundschaftlich obwohl die Frauen einen sehr unterschiedlichen Background haben. Die vorgesehene Zeit ist schnell um und wir wollen diesen Talk gerne als Auftakt für weiteren Austausch zu diesem Thema sehen.

Als Coach kann ich mir zum Abschluss eine Hausübung für die Teilnehmerinnen nicht verkneifen:

Man schlinge die Arme um den eigenen Oberkörper, wiege sich selbst in den eigenen Armen, streichle sich mit den eigenen Händen und sage dabei zärtlich mit einem fröhlichen Tonfall zu sich selbst: „Ich mag mich!“

Mehrmals täglich anwenden und sich freuen!

 

(Fotocredit: Unsplash.com)